Vom 28.12. bis  5.1.17 war Susanne aus Frankfurt mit uns in Grande Synthe im Norden Frankreichs. In diesem persönlichen Bericht schreibt sie über das, was bleibt. Über Erinnerungen, Emotionen und Erfahrungen. Auch wenn sich seitdem die Situation vor Ort verändert hat, die Bedingungen, in denen Menschen auf der Flucht leben müssen, sind weiterhin unzumutbar. Wir sind dankbar über jeden Menschen, der*die sich wie Susanne dazu entschließt, uns vor Ort zu unterstützen!

Eine Woche im Januar

Als mein Sohn im Dezember 2016 eine Mail von Rigardu bekam, in der dringend noch Helfende über Weihnachten und Silvester für die Kesha Niya Kitchen im Refugee Camp „La Linière“ in Grande Synthe bei Dunkerque gesucht wurden, und er aufgrund der anstehenden Abiturprüfungen sich schweren Herzens für Mathe und Geschichte entscheiden musste, habe ich spontan beschlossen selbst hinzufahren. Es wurde eine besondere Woche. Ich denke, ich habe zum ersten Mal erlebt, was ihr von Rigardu auf euren Einsätzen schon oft erfahren habt.

Mit dem Auto voller Kleiderspenden, die Lea, Martin und Kristian am Abend zuvor bei mir vorbeigebracht hatten, fuhr ich los. Mit im Auto saß Joanna, eine Studentin, die sich spontan angeschlossen hatte, nachdem sie über Rigardu von meiner Fahrt gehört hatte.

Als wir abends im Camp ankamen, gab es eine kurze Führung, Info und etwas zu essen. Dann organisierten wir für Joanna einen Schlafplatz in dem großen Haus in Puythouck, in dem viele Helfende von unterschiedlichen Organisationen wohnten.

Die „Kitchen“ selbst war ein abgegrenzter Bereich im Camp, bestehend aus den Resten eines alten Hofes mit Scheune und ein paar Lagergebäuden. In diesen Bereich kam man nur über den Eingang durch das Teezelt. Neben dem Zelt, in dem es immer Snacks, Getränke und vor allem Gemeinschaft und Gespräche gab, stand der Food Truck, wo die Bewohnenden sich ihre Abendmahlzeit abholen konnten. Die Campbewohnenden waren zum allergrößten Teil kurdische Männer aus dem Irak, Syrien und der Türkei, nur wenige Frauen und ganze Familien.

Als wir ankamen, war die Verteilung in vollem Gange. Es waren viele, sehr junge Freiwillige und ebenso viele junge kurdische Männer in der „Kitchen”, die sich vor allem um die Essensausgabe kümmerten. Ich saß an diesem Abend noch kurz am Feuer und habe die jungen Menschen beobachtet, die auch als freiwillige Helfende im Camp waren. „Voluntourism“ kam mir kurz in den Kopf. Den Gedanken habe ich aber ganz schnell wieder gestrichen, denn ich hatte natürlich keine Ahnung, wer wie lange und aus welchen Gründen hier war. Außerdem, war ich nicht auch eine von denen, die mal „ein bisschen helfen“ wollten?

Am nächsten Morgen fuhr ich ins Warehouse nach Calais und lieferte die Spenden ab. Wieder im zurück im Camp, verbrachte ich den Tag in der Küche und im Woodshed (die täglichen Holzlieferungen für die einzelnen Shelter packen) und später im Women’s Center. An diesem Tag ist eine weitere Gruppe von 10 amerikanischen Langzeitvolunteers angekommen. Enthusiastische Collegestudierenden in schicken Outdoorklamotten, die frisch von einem vierwöchigen Vorbereitungscamp auf Hawaii kamen, um dann weiter zu verschiedenen Orten in Europa zu reisen und dort jeweils für ein paar Wochen humanitäre Hilfe zu leisten. Ein Programm, das die Teilnehmenden viel Geld gekostet hat und natürlich bei mir sofort wieder den Gedanken aufkommen ließ, ob die zehntausende von Dollars nicht als direkte Spenden viel mehr hätten ausrichten können.

Insgesamt waren in der Zeit über Silvester sehr viele Freiwillige vor Ort, sodass der Eindruck entstand, dass es relativ wenig zu tun gab für den*die Einzelne*n. Zumindest, wenn man mit den Abläufen und Anforderungen noch nicht vertraut war. Das war allerdings nur meine Wahrnehmung, denn auf jeden Fall hielt dieses riesige, überbelegte Camp sicherlich Arbeit ohne Ende bereit. Auch gab es keine richtige Aufgabenverteilung und alles schien etwas chaotisch. Aber das ist ja auch das Prinzip bei Kesha Niya ­– nein, nicht das Chaos – sondern Selbstorganisation, auch des*der Einzelnen, ohne straffe Leitung. Allerdings hätte ich mir eine bessere Integration von neu dazukommenden Freiwilligen gewünscht. Es gab ein deutliches „Wissens- und Informationsgefälle“ zwischen denen, die seit Monaten bei Kesha Niya dabei waren und denen, die „nur“ mal ein paar Tage oder Wochen zum Helfen kamen. Einerseits verständlich, andererseits …

Ein weiteres wichtiges Prinzip bei diesem Projekt – und zwar an jedem Ort, an dem sich die Kesha Niya Kitchen engagiert – ist die direkte Mitarbeit der Geflüchteten selbst. Die große köstliche Abendmahlzeit für alle Campbewohnenden wurde immer unter (An)Leitung des kurdischen Küchenteams zubereitet. Jetzt kann ich meinen Reis hier Zuhause auch auf kurdische Art kochen!

Allerdings haben sich aufgrund der Mitarbeit auch gewisse Hierarchien unter den Kurden entwickelt. Zugang zum abgetrennten Kitchenbereich zu haben, war ein Privileg. Wer da aus welchen Gründen reinkam, war für mich nicht durchschaubar. Natürlich war es schön für die Geflüchteten, mit den Helfenden am Feuer zu sitzen, zu reden und zu lachen und außerdem angenehm, immer Zugang zur Küche und den Lebensmittellagern zu haben, aber für die, die draußen bleiben mussten, buchstäblich vor der Schranke im Teezelt, war das bestimmt kein gutes Gefühl. Manchmal waren die Spannungen merkbar.

Ich beschloss, die kommenden Tage im Warehouse in Calais zu arbeiten. Das Warehouse wird seit vielen Jahren von der Organisation L’Auberge des Migrants (www.laubergedesmigrants.fr) organisiert und geleitet, mit Unterstützung von anderen, meist britischen Hilfsorganisationen. In zwei riesigen Lagerhallen werden dort die täglich eintreffenden Sachspenden wie Kleidung, Zelte, Schlafsäcke, Schuhe, Hygieneartikel etc. sortiert. Das Warehouse versorgt von Calais aus verschiedene Camps in Frankreich, der Türkei, dem Libanon, Syrien, und Griechenland je nach Bedarf mit den verschiedensten Artikeln.

Abends nach Schließung des Warehouses fuhr ich dann meistens noch im Camp vorbei und half bei der Food Distribution aus dem Truck, saß im Teezelt und habe mich unterhalten, und was zum Abspülen gab’s sowieso immer. Die Stimmung im Camp war okay, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte. Aber die Enge und die Unsicherheit, darüber wie es weitergehen sollte sowie die Kälte setzten den Menschen zu. In der großen überdachten Halle am Eingang des Camps, wo es die Handyladestationen gab, standen nur noch ein paar einsame Bänke, der gesamte Rest war in den Sheltern verheizt worden. Am Abend vor unserer Ankunft gab es eine Schlägerei mit Tränengaseinsatz der allgegenwärtigen Sicherheitskräfte, ein paar Tage später wurde jemand niedergestochen und alle Volunteers mussten kurzzeitig das Camp verlassen.

Die tägliche Arbeit im Warehouse war großartig! Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich damit natürlich die für mich „einfachere“ Lösung gewählt hatte und mich nicht meinen Unsicherheiten und Bedenken im Camp gestellt habe. Im Warehouse war es zwar körperlich fordernd (u.a. haben wir den kompletten Hygiene Bereich von ganz vorne nach ganz hinten geräumt) und drinnen so kalt wie draußen, aber effektiv, inspirierend und belohnend. Dort war es egal, woher du kamst, wie alt du warst, welches Geschlecht du hattest – wir waren alle ein Team, mit demselben Ziel. (Ich habe dann später sogar eure Spenden auf dem Sortiertisch gehabt. Hab das gemerkt, als ich die Pullover-Kiste hatte, in die ich selbst noch ein paar Socken gestopft habe. Ihr habt super vorsortiert und toll gepackt! Kein Ausschuss für Recycling oder den dem Warehouse angeschlossenen Charity Shop (in dem jeder für ein paar Euro die Sachspenden kaufen kann, die nicht weitergegeben werden können. Das Geld fließt dann wiederum in die Hilfsprojekte!) Als wir Helfende am Neujahrsmorgen verschlafen im Warehouse ankamen, hatte das unglaubliche Küchenteam von RCK (www.refugeecommunitykitchen.com) für alle Volunteers als Überraschung ein Full Englisch Breakfast zubereitet! Das war rührend – nicht nur für die britischen Helfenden – und sehr lecker. Im Warehouse wurde übrigens auch die Mittagsmahlzeit für alle Campbewohner von La Linière gekocht und dann die 25 km ins Camp gefahren und dort verteilt.

Ich habe mit vielen Menschen im Warehouse gesprochen, ich wollte wissen, warum sie hier sind. Die Motivation war irgendwie immer „etwas zu tun“, unkompliziert zu helfen. Gerade für die Brit*innen war es wichtig, durch aktive Hilfe ein Zeichen gegen die Erlasse, Gesetze und Verlautbarungen ihrer Regierung zu setzten. Manche kamen für einen Tag aus der Gegend, manche für ein Wochenende oder ein paar Tage, andere für länger. Ich habe ein älteres Ehepaar aus Antwerpen getroffen, die mit ihrer 20jährigen Tochter da waren, einen noch älteren Maler aus London, zwei befreundete Großmütter aus Wales, drei Studentinnen aus Lille, eine Hausfrau aus Calais selbst. Jede*r war willkommen! Nach einer kurzen Begrüßung und Einweisung, hieß es die neongelbe High-Visibility Weste überziehen (man hatte den Eindruck auf einem ADAC-Mitarbeiter Jahrestreffen zu sein) und anfangen zu sortieren.

Ich hatte in den Tagen das Gefühl, in Parallelwelten zu existieren, eigentlich in drei. Zum einen das Camp, in dem das Leben auf der Stelle zu treten schien – für die Geflüchteten, aber auch für die Volunteers – dann im Warehouse, wo die Stimmung fröhlich war, viel Lachen, tolle Gespräche und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und dann – wirklich spooky – meine wenigen Ausflüge zum lokalen Auchan, wo das Angebot an Waren schier unüberschaubar war. Auffallend auch die große Menge an Sicherheitspersonal vor und im Markt. Unter den vielen gut gekleideten Franzos*innen mit den vollen Einkaufwagen fühlte ich mich in meinen immergleichen Jeans, dem altem Pullover und dreckigen Wanderstiefeln so fremd wie schon lange nicht mehr an einem Ort. Die schiere Fülle der Produkte stieß mich regelrecht ab und ich wanderte fassungslos zwischen Champagnerregalen, Pastetenverkostungen, Austernkörben und Patisseriearrangements umher. Der Supermarkt liegt nur einen Kilometer vom Camp entfernt, gefühlt aber auf einem anderen Planeten. Der krasse Gegensatz bestimmt bis heute meine Sicht auf unsere schöne bunte Warenwelt. Die Tage vergingen sehr schnell und nach einer guten Woche bin ich wieder nach Deutschland gefahren, mit dem Wunsch im Herzen, wiederzukommen. Es ist wirklich unkompliziert, dort ein paar Tage zu verbringen und etwas Sinnvolles zu tun. Es ist kein Urlaub, aber eine inspirierende, belohnende Zeit.

Ich möchte mich auch bedanken, denn ohne solche jungen, engagierten, offenen Menschen wie euch, wär ich wohl nicht auf die Idee gekommen, einfach hinzufahren. Eure Mail war genau der richtige Impuls!

Nachtrag:

Das Camp la Liniere bei Grande Synthe gibt es nicht mehr. Es ist in der Nacht vom 10. April vollständig niedergebrannt, nur ein gutes Jahr nachdem es eingerichtet wurde. Nach offiziellen Behördenangaben hatten sich kurdische und afghanische Flüchtende zunächst eine Schlägerei geliefert, bei denen sechs Menschen durch Messerstiche verletzt worden seien. Ob anschließend tatsächlich mehrere Feuer im Camp gelegt wurden, konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden. Weitere sechs Bewohner*innen wurden durch den Brand verletzt (theguardian berichtet: https://www.theguardian.com/world/2017/apr/12/riot-police-stop-refugees-returning-to-dunkirk-camp-destroyed-by-fire).

Das Kesha Niya Team hat das Camp allerdings schon Ende März verlassen. https://www.facebook.com/KeshaNiyaProject

geschrieben von Susanne


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