Gesetze bzw. die daraus resultierenden Rechte werden geradezu sinnlos, wenn die mit ihnen verbunden Pflichten nicht auch vom jeweiligen Adressaten erfüllt werden.
Genau dieses Problem hat uns aus gegebenem Anlass während und nach dem Calaisaufenthalt sehr beschäftigt.

Das ganze Konzept der Rechte von Geflüchteten hängt solange in der Luft, wie nicht angeben werden kann, wer der Adressat von basalen Rechten wie dem Recht auf Sicherheit und dem Recht auf Subsistenz sein soll. Rechte hat jemand, wie oben gesagt, immer auf etwas gegenüber jemandem. Wer ist also verantwortlich für den Schutz und die Bereitstellung der Rechtssubstanz, auf die diese Menschen kraft eines (Menschen)Rechts einen legitimen Anspruch haben?
Die Antwort sollte lauten: Adressaten sind der Staat und seine zentralen Institutionen sowie deren Repräsentanten. (Vor allem, wenn man von nichtliberalen Wohlfahrtsstaaten wie unserem oder auch dem französischen ausgeht).
Jetzt ergeben sich aber zwei große Probleme.
Was ist, wenn erstens der Staat den Pflichten, die das Asylrecht mit sich bringt, einfach nicht (ausreichend) nachkommt und sich auch noch darauf verlassen kann, dass seine Aufgaben (teilweise) durch ehrenamtlichen Einsatz und Privatspenden erfüllt werden.
Zweitens ist nicht jeder Geflüchtete Träger derselben Rechtsubstanz. Denn es gibt Menschen, die das Recht auf Asyl haben und die, die aus „sicheren Herkunftsländern“ kommen und somit nur illegal längere Zeit in Europa sein können.

Zu Problem eins gibt es Folgendes zu sagen:
Würden Staaten und internationale Organisationen wie die UNO ihre Pflichten ausreichend erfüllen, könnte jeder Einzelne seiner individuellen Hilfspflicht in der Regel schon dadurch genügen, indem er der rechtlich-moralischen Pflicht, Steuern zu zahlen, nachkommt und dann ggf. bezahlt in der Flüchtlingshilfe arbeitet. (Es geht hierbei nur um die Erfüllung der Grundbedürfnisse).
Der Staat agiert aber nicht ausreichend. Wozu ist dann der Einzelne verpflichtet ?
(Und ab hier kann eigentlich nicht weiter von rechtlich-moralischer sondern nur noch von moralischer Pflicht die Rede sein kann).
Weitergedacht ergibt sich die Pflicht zu einem entsprechenden politischen Engagement, also dazu, sich für die Etablierung effektiver sozialer Arrangements einzusetzen. Das sind aber leider meist langwierige Prozesse, die, wenn überhaupt, nur kleinschrittig zu Ergebnissen führen.
Und ist dann nicht doch legitim, wenn sich der Einzelne (moralisch) dazu verpflichtet fühlt in dieser Zeit zu helfen, also Aufgaben des Staates zu übernehmen? Klar, damit entschleunigt man fatalerweise den Prozess der ggf. positiven Entwicklungen, weil der Druck auf den Staat verringert wird. Aber nach den Eindrücken, die wir im Jungle gesammelt haben, fällt es zu schwer eine Prozessdauer auf die Kosten von Menschen(leben) auszusitzen. Und deswegen übernehmen wir weiterhin (mit unseren Spendengeldern) einen Teil der Pflichtleistungen des französischen Staates, wenn auch mit dem Wissen um das beschriebene Dilemma und einem unguten Gefühl.

Glücklicherweise engagieren sich NGOs in Calais, um Frankreich in seine Pflicht zu rufen. „Ärzte der Welt“ klagte im Herbst 2015 gegen den Staat.
(Leider geht aus Quellen hierzu nicht klar hervor, ob mit Berufung auf die Menschenrechte oder die franz. Verfassung geklagt wurde.) Ein unendlich wichtiger Schritt in die richtige Richtung !
( http://www.aerztederwelt.org/projekte/projekt-details/article/calais-gericht-gibt-aerzte-der-welt-recht.html )

Problem zwei wirft ein nochmal ganz neues Dilemma auf.
Wenn Menschen, die illegal in Europa oder auch ganz konkret im Jungle sind, selbst ihre (Menschen)Rechte einfordern würden, müssten sie sich “outen”. Und in diesem Fall würden sie auf rechtlicher Basis abgeschoben werden.
Wenn man gesehen hat, welchen Lebensstandard die Geflüchteten im Jungle auf sich nehmen, kann man davon ausgehen, dass eine Abschiebung in ihr Heimatland eine Gefährdung ihrer Sicherheit darstellen würde. Theoretisch ein aktiver Verstoß gegen die UN-Menschenrechtscharta (Siehe Artikel 3: “Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person”). Eine rechtliche Grauzone, zumindest für uns als juristische Laien. Denn es erscheint unklar, ob Menschenrechte primär politischen, rechtlichen oder moralischen Richtlinien unterliegen.
In dieser komplizierten und leider für die Geflüchteten aussichtslos erscheinenden Situation haben wir uns dazu entschieden, es zu unserer ganz persönlichen moralischen Pflicht zu machen, diesen Menschen mit Hilfe und Spenden zur Seite zu stehen.

Verfasst von Lolla

Kategorien: Allgemein

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