Im August waren Max und Katrin in Šid an der serbisch-kroatischen Grenze um dort im Projekt von Rigardu mitzuhelfen. Dort organisieren wir unter anderem Duschen und die Trinkwasserausgabe und kooperieren mit anderen NGOs, die Essen und medizinische Versorgung bereitstellen. Ein Kommentar von Max.

Serbien also. Über eine Freundin hörten wir von Rigardu und den Projekten vor Ort und entschieden uns schließlich recht spontan hinzufahren. Geplant waren 10 Tage, danach wollten wir noch reisen, wandern in Albanien, Mazedonien, mal sehen.

Als wir abends ankommen, holt Nathalie uns ab und nimmt uns direkt mit zur abendlichen Essens- und Trinkwasserausgabe. Rigardu stellt den großen Trinkwassertank und eine Handyladestation, aus Lautsprechern tönt afghanische Musik. Obwohl es schon nach sieben Uhr ist, sind es nur knapp unter 40 Grad. Gerade ist jemand wegen der Hitze und Wassermangel ohnmächtig geworden, Freiwillige haben ihn ins Krankenhaus gebracht.

Wegen Problemen mit der serbischen Polizei, von der die Aktionen am vorherigen Ort, einer alten Fabrik, immer wieder gestört wurden, findet die Ausgabe an einem Feldrand außerhalb der Stadt statt. Ungefähr 100 Menschen stehen für eine Portion Kichererbsen an oder sitzen unter einigen Obstbäumen herum und laden ihre Handys. Wir stehen erstmal etwas orientierungslos herum, unsicher wie wir uns verhalten sollen. Aber nur kurz, man kommt nicht umhin mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Schon an diesem ersten Abend lernen wir viele der Menschen kennen, die wir über die nächsten Wochen fast jeden Tag wieder sehen werden. Die Gespräche verlaufen zunächst immer nach dem gleichen Muster, vor allem ich stelle immer die gleichen Fragen, denn ich möchte mir ein Bild von der Situation machen.

Woher kommst du? Afghanistan. Pakistan. Algerien. Tunesien.

Wie lange bist du schon hier, in Serbien, in Šid? 3 Monate. 7 Monate. Ein Jahr.

Wie lange ist es her, dass du aufgebrochen bist, von zu Hause? 18 Monate. 2 Jahre. 2,5 Jahre.

Es sind Gespräche, die bei mir Spuren hinterlassen. Es gibt in Serbien wenige Camps für Flüchtende, in Šid gibt es keins. Die etwa 150-300 Männer und Jugendlichen, die sich hier aufhalten, schlafen im ‚Jungle‘, in den Feldern außerhalb der Stadt, wo die Polizei sie nicht findet. Das einzige, was die Leute hierher führt, ist die Nähe der Stadt zur Grenze – und die Grenze ist es auch, die sie über viele Monate hierbleiben lässt. Ungarn, das weiter im Norden die Außengrenze der EU bildet, hat schon vor zwei Jahren seine Grenzen mit hohen Zäunen und Stacheldraht geschlossen. Hier ist das noch nicht passiert, der Übergang nach Kroatien ist aber auch hier fast unmöglich geworden. Die Polizei patrouilliert, greift die Leute im Grenzgebiet auf und bringt sie zurück in serbisches Gebiet, also nicht-EU-Gebiet. Manche schaffen es trotzdem, bis nach Zagreb oder sogar bis nach Slowenien. Meist werden sie dort dann doch aufgegriffen und den ganzen Weg zurück nach Serbien gefahren, wo die Polizei sie dann entweder hinter der Grenze rausschmeißt oder in eines der geschlossenen Camps bringt.¹ Häufig nicht ohne die Menschen vorher zu verprügeln; Rigardu dokumentiert seit Monaten die Gewalt der kroatischen Polizei.² Die zunehmende Undurchdringlichkeit der Grenzen macht das Unterfangen immer gefährlicher, viele Flüchtende versuchen, sich in den Containern der Lastwagen zu verstecken, auf Güterzüge aufzuspringen, sich unter die Wagen zu hängen. Menschen sterben dabei. In den drei Wochen, die wir in Šid sind, kommt das zweimal vor.

Wir wünschen den Flüchtenden Glück, wenn sie sich abends verabschieden, um ins ‚Game‘ zu gehen, also versuchen die Grenze zu passieren. Fast immer sehen wir sie am nächsten oder übernächsten Tag wieder, manchmal auch erst nach einer Woche. Ich frage:

Wie oft hast du es schon versucht, über die Grenze zu kommen? 12 Mal. 21 Mal. Achselzucken, keine Ahnung. Irgendwann klappt es schon.

Aber das Leben hier verändert diese Menschen. Freiwillige, die länger, über mehrere Monate hier sind, erzählen uns wie sie bei vielen der Menschen eine Entwicklung beobachten können. Sie werden stiller, wirken oft apathisch und starren viel vor sich hin. Andere stehen kurz vor der Explosion, neigen zu Aggressivität. Fast täglich gibt es Konflikte, manchmal Schlägereien. Die Gewalt bricht dann vulkanartig aus, Situationen können in wenigen Sekunden eskalieren.

Flucht bedeutet Monate, Jahre ohne Zuhause oder Rückzugsraum; um zu überleben muss man permanent angespannt, wachsam sein.

Das ist ein weiter Effekt der vielfach gesicherten Festungsmauern Europas: Sie sieben aus. Die, die es am Ende schaffen, gehören zu den stärksten, abgehärtetsten – und privilegiertesten. Der illegale Weg über die Grenzen kostet viele tausend Euro. Als ich Zia, aus Afghanistan, nach seiner Route frage, erzählt er: Afghanistan – Türkei: 2200 Euro. Türkei – Bulgarien: 1800 Euro. Serbien – Italien: 3000 Euro. Leisten kann sich das nur, wer Unterstützung hat, sich von Freunden und Familie Geld schicken lassen kann. Andere verbringen unterwegs viele Monate als billige Arbeitskräfte um sich die Weiterreise zu finanzieren. Wer es am Ende doch schafft, ist oft genug traumatisiert und hat mit psychischen Problemen zu kämpfen. Wer es nicht schafft auch. Kriegserfahrungen im Heimatland braucht es dafür nicht einmal.

Am frustrierendsten empfinde ich die unglaubliche Perspektivlosigkeit. Was soll ich Zia antworten, wenn er mich fragt, ob seine in Bulgarien registrierten Fingerabdrücke ein Problem sind? Nach dem Dublin-Abkommen sind sie das – er müsste im ersten Einreiseland bleiben. Wenn mich Menschen aus Algerien fragen, ob es besser sei, nach Italien, Frankreich oder Deutschland zu gehen? Keine Ahnung – eine Chance auf ein langfristiges Bleiberecht haben sie eigentlich nirgends. Einige haben bereits in diesen Ländern gelebt, sprechen die Sprachen. Sie wurden abgeschoben und sind nun wieder auf dem Weg, versuchen es erneut.

Auch als Freiwilliger muss ich lernen mit den Erfahrungen vor Ort, mit den gehörten Geschichten umzugehen. In der Gruppe versuchen wir uns dabei zu unterstützen, tauschen Strategien aus. Manche versuchen den persönlichen Kontakt mit den Flüchtenden zu begrenzen, auf einem möglichst professionellen Level zu bleiben. Ablenkung ist wichtig, wer Zeit braucht, nimmt sich frei. Wir können das, die Flüchtenden nicht. Mich trifft es meist, wenn wir eigentlich versuchen die Arbeit zu vergessen. Abends, wenn wir im Stadtzentrum sitzen, Bier trinken, etwas essen, fühle ich mich oft wie in einer Parallelwelt. Ich trinke mein Bier und denke daran, was jetzt nur wenige Kilometer entfernt passiert, im Jungle, an der Grenze. Fast, als ob die Dinge mit schwindender physischer Entfernung auch realer würden, als ob Emotionen eine begrenzte Kilometerreichweite hätten.

Statt den geplanten 10 Tagen bleiben wir am Ende drei Wochen, mehr Zeit haben wir nicht. Zurück in Deutschland fühlen sich für mich viele Dinge anders an. Ich sitze zu Hause und lese über Abschiebungen nach Afghanistan, über die neue Grenzpolitik der EU in Libyen. Das habe ich zwar auch vorher gemacht, doch jetzt wird mir förmlich schlecht dabei. Es ist, als hätte jemand einen Vorhang entfernt, die Berichte wirken plötzlich viel realer, näher, fast körperlicher. Viel mehr ist mir nun bewusst, dass hinter jedem Namen, hinter jeder Zahl in diesen Berichten ein Mensch steht. Menschen wie ich sie in Šid kennengelernt habe. Auch vorher habe ich schon mit Flüchtenden gearbeitet, aber das hat meine Wahrnehmung der Situation, der sogenannten „Flüchtlingskrise“ nicht so verändert wie die Zeit an der Grenze. Ich habe diesen Bericht geschrieben um einen Eindruck von dieser Erfahrung zu vermitteln, denn sie ist wichtig. Es ist verdammt wichtig, sich darüber klarzuwerden, was da eigentlich gerade passiert.

Die Bilder stammen von spanischen Fotograf*innen von fotomovimiento.org. Weitere Bilder gibt es in deren Galerie.

Verfasst von Max

¹ https://medium.com/@AreYouSyrious/report-on-illegal-and-forced-push-backs-of-refugees-from-the-republic-of-croatia-3f8c50ca10c1

²   https://rigardu.de/2017/06/14/ein-mensch-ist-kein-fussball-wie-menschenrechte-mit-fuessen-getreten-werden/

Kategorien: Šid

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