Der „Alltag“ der Freiwilligen in Idomeni wurde am Montag durch eine überraschende Aktion durcheinandergeworfen: Am Wochenende tauchten im Camp Flugblätter in arabischer Sprache auf, die zum gemeinsamen Grenzübertritt nach Mazedonien an einer ca. 5 km von Idomeni entfernten Stelle, kurz hinter einem Fluss, aufforderten. Unterschrieben war dieses Flugblatt von einem „kommando norbert blüm“ – wir wissen bis heute nicht, wer dahinter steckt.

Ungefähr 1500-2000 Menschen machten sich daraufhin Montagmittag auf den Weg zu diesem Ort, darunter viele Familien mit all ihrem Hab und Gut. Spontan schlossen wir uns dem Marsch an, um die Flüchtenden nicht sich selbst zu überlassen und die zu erwartende, äußerst gefährliche Situation der Flussdurchquerung nach unseren Möglichkeiten abzusichern. Auf dem Weg hatten wir mit vielen Menschen Kontakt, erfuhren nochmals einiges über die eigentlichen Fluchtgründe und Situationen in den Heimatländern, aber auch über die Verzweiflung im Camp und den schwindenden Glauben an eine politische Lösung zum Wohle der Flüchtenden. Diese Perspektivlosigkeit war für die Meisten der Grund sich diesem sehr ungewissen Zug anzuschließen, ohne überhaupt zu wissen, was sie auf der anderen Seite erwarten würde. Nach zweistündigem Marsch, der schon ohne Gepäck nicht leicht war, erreichten wir einen Fluss, an dem bereits reges Treiben stattfand. Die Menschen durchwateten mit Gepäck und Kindern das an einigen Stellen oberschenkeltiefe Wasser, unterstützt von Freiwilligen, die eine Menschenkette durch den Fluss gebildet und zusätzlich ein Seil vom einen zum anderen Ufer gespannt hatten, um zu verhindern, dass jemand von dem angeschwollenen Fluss mitgerissen wurde. Trotz der Meldung, dass an dieser Stelle oder einem anderen Fluss weiter landeinwärts (das ließ sich nicht genau herausfinden) in der Nacht zuvor bereits drei Menschen ertrunken waren, ließen sich die Flüchtenden nicht von der Überquerung abhalten. Ein bizarres Bild boten die vielen Reporter*innen, die fotografierend, filmend und berichtend ebenfalls durch das eiskalte Wasser wateten, über dem Fluss schwebte eine Drohne.

Nach einiger Zeit kam Polizei dazu und ließ die nachkommenden Menschen nur noch in kleineren Gruppen durch, was das Chaos etwas verringerte. Am späten Abend, als es schon dunkel war, warteten schließlich nur noch etwa 30 Menschen bei der Polizei. Zuerst hieß es, sie würden erst durchgelassen, wenn es wieder hell wird, doch als der letzte Reporter weg war, verschwand auch die Polizei. Die Freiwilligen teilten sich auf, um im „Schichtdienst“ bei der Überquerung des Flusses zu helfen und weitere nächtliche Unglücke im kalten Wasser zu verhindern.

Am anderen Ufer angekommen liefen die Menschen, nun völlig durchnässt, nach einer kleinen Verschnaufpause weiter in Richtung mazedonischer Grenze. Nachdem der Zaun auch auf dieser Seite scheinbar nicht aufhören wollte, ging nach weiteren 20-30 Minuten Fußmarsch plötzlich ein Pfad nach rechts ab und der Zaun war nicht mehr zu sehen. Der eintretenden Euphorie wurde ein schneller Dämpfer verpasst, da sich das mazedonische Militär bereits in Stellung gebracht hatte. Einige Freiwillige und Journalisten, die den Marsch auch nach der Grenze noch begleitet hatten, wurden daraufhin wegen illegalem Grenzübertritt festgenommen, kamen aber im Laufe der Nacht gegen die Zahlung eines Bußgeldes wieder frei. Die Flüchtenden wurden zusammengepfercht und von den schwer bewaffneten Soldaten aufgefordert wieder auf griechisches Staatsgebiet zurückzugehen. Was mit den wenigen passiert ist, denen der Grenzübertritt vor Erscheinen des Militärs gelang, wissen wir nicht. Vor der Grenze bildete sich jetzt ein provisorisches Camp mit etwa 1.500 Menschen, die dort eine Nacht verbrachten; einige Freiwillige waren vor Ort und verteilten Wasser, Decken und Suppe. Völlig durchnässt traten wir den Rückweg an, um am nächsten Morgen um sechs Uhr wieder am Fluss zu sein und die Nachtschicht abzulösen. Die vielen Menschen, die am Tag zuvor voller Hoffnung durch den Fluss gelaufen waren, kamen morgens verzweifelt wieder zurück. Es herrschte eine ganz andere Stimmung. Wir verteilten mit anderen Freiwilligen Essen und Decken und fachten kleine Feuer an, an denen sich die Menschen nach der erneuten Flussdurchquerung aufwärmen konnten, der einsetzende Regen erschwerte dies. Gegen Mittag hatten alle Flüchtenden den Fluss wieder überquert und traten völlig durchnässt den zweistündigen Rückweg zum Camp an.

Die ganzen Geschehnisse lassen uns betroffen und ratlos zurück, da durch sie für viele Flüchtenden die letzte Hoffnung genommen wurde. Fraglich ist, was die Verantwortlichen mit dem Flugblatt bewirken wollten, aus unserer Sicht wurde bei dieser von Anfang an aussichtslosen Aktion mit Menschenleben gespielt und das verurteilen wir. Im Camp ist am Tag danach ein Stück weit wieder der Alltag eingekehrt, einige reisen Richtung Athen ab, die große Mehrheit harrt weiter bei Schlamm und Regen aus. Durch die permanente Unterkühlung und fehlende Hygiene verbreiten sich zunehmend Krankheiten. Es gibt weiterhin regelmäßig friedliche Demonstrationen und eine Gruppe von Syrern befindet sich im Hungerstreik.

Wir wollen in diesem Zusammenhang nochmal verdeutlichen, dass es uns nie darum ging, Menschen aktiv bei der Grenzüberschreitung zu unterstützen, sondern die gefährliche Flussüberquerung – von der die Menschen nicht abzuhalten waren – so weit es uns möglich war, abzusichern.

Verfasst von Anika und Kristian,
bearbeitet von Martin und Saskia 

Kategorien: Idomeni

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